Quelle: Magazin Mai 2020 - Stimme der Märtyrer
Jeden Sonntag erscheinen zu einer vereinbarten Uhrzeit nach und nach Benutzernamen auf dem Bildschirm. Sobald alle Teilnehmer sich beim Video-Feed angemeldet haben, beginnt der Online-Gottesdienst: Wie in einer „echten“ Kirche singen sie Lieder, beten gemeinsam und hören eine Predigt. Sie nehmen an einem illegalen Gottesdienst teil.
Die christliche Frühregen-Bündnis-Kirche in Chengdu hat sich auf diese Weise geweigert, ihre Gottesdienste einzustellen – trotz des immensen Drucks seitens der kommunistischen Regierung, die 2018 befahl, die Kirche zu schließen. Ihre Mitglieder wurden dazu gezwungen, falsche Geständnisse abzulegen, sie wurden verhaftet und teilweise gefoltert. Doch auch wenn ihr leitender Pastor Wang-Yi nach wie vor im Gefängnis ist, feiern sie weiterhin Gottesdienste. Einige möchten lieber nicht mit der Gemeinde in Verbindung gebracht werden, aber die meisten der 500 Gemeindemitglieder sind bereit, für ihren Glauben Nachteile und Leid in Kauf zu nehmen. Manche haben jetzt rund um die Uhr einen Polizisten vor ihrer Haustür stehen, der jeden ihrer Schritte verfolgt, andere wurden in weit entfernte Orte verbannt.
Ein geschichtlicher Abriss
Die Frühregen-Bündnis-Kirche begann 2004 als Hauskreis und wurde 2008 eine regierungsunabhängige – und damit “illegale” – Gemeinde. Wang-Yi wurde im darauffolgenden Jahr zum leitenden Pastor ernannt. Er hatte zuvor als Anwalt und Juraprofessor an der Chengdu Universität gearbeitet und war 2004 zum Glauben gekommen.
Schon vor mehr als einem Jahrhundert hatte es kleinere Zusammenschlüsse von Christen in China gegeben, die jedoch 1949 mit der Gründung der Volksrepublik China in den Untergrund gedrängt wurden. Kleine christliche Gruppen, die nicht mit der regierungsgeführten Patriotischen Drei-Selbst-Bewegung einverstanden waren (diese Organisation sollte sicherstellen, dass die Kirche den Leitlinien der kommunistischen Regierung entsprach), mussten sich von nun an in ihren eigenen vier Wänden oder unter freiem Himmel treffen. Diese sogenannten Hauskirchen wurden in der anschließenden Kulturrevolution von 1966 bis 1976, in der Mao Zedong die kommunistische Partei zu reformieren und das Christentum auszulöschen versuchte, extrem verfolgt. Man verurteilte Christen zu langen Haftstrafen, viele von ihnen wurden gefoltert und getötet. Nach weiterer intensiver Verfolgung in den 1970er und 1980er Jahren wuchsen die Hauskirchen stark, vor allem in den ausgedehnten ländlichen Gebieten. Obwohl sie weiterhin als illegal galten, wurden sie von den lokalen Behörden meist in Ruhe gelassen – vorausgesetzt, sie machten keine Probleme und verhielten sich ruhig. Die Beamten vor Ort erhielten von der chinesischen Regierung einen relativ großen Spielraum bei der Auslegung der Religionsgesetze. Wie man Christen behandelte, unterschied sich demnach sehr von Ort zu Ort.
In den letzten zwei Jahrzehnten formierten sich immer mehr Hauskirchen auch in städtischen Ballungszentren. Ihre Mitgliederzahlen gehen pro Gemeinde in die Hunderte wenn nicht sogar Tausende. Viele dieser städtischen Hauskirchen trafen sich bis vor Kurzem ganz offen in gemieteten Büroräumen, Hotellobbys und in manchen Fällen sogar auch in eigenen Gebäuden. Die Frühregen-Bündnis-Kirche ist eine solche Gemeinde.
Von Anfang an ging sie sehr offen mit den eigenen Inhalten und Zielen um. Die Strategie dieser Gemeinde war, nichts vor der Regierung zu verheimlichen und an ihren christlichen Überzeugungen festzuhalten. Sie war dafür bekannt, einen besonderen Wert auf Evangelisation zu legen und darauf, ihren Mitmenschen ganz praktisch zu dienen – Aktivitäten, die von anderen Kirchen, die bei der staatlichen Regierung nicht auffallen wollten, vermieden wurden.
Die Verfolgung nimmt (wieder) zu
2013 wurde Xi Jinping Generalsekretär der kommunistischen Partei Chinas und somit Präsident der Volksrepublik China. Er zentralisierte die Macht und rief sein Land dazu auf, vor der „Infiltration“ durch Religion und extremistische Ideologien auf der Hut zu sein. Im September 2017 erließ der chinesische Staatsrat neue Vorschriften zur "Verwaltung religiöser Angelegenheiten" und die Kommunistische Partei Chinas übernahm die „Steuerung des religiösen Lebens“. Im März 2018 verabschiedeten die Patriotische Drei-Selbst-Bewegung und der Chinesische Christenrat – eine weitere von der chinesischen Regierung unterstützte Organisation – einen Fünfjahresplan zur „Sinisierung des Christentums“, also der Assimilierung des Christentums an die chinesische Kultur. Dieser Plan sieht vor, die Bibel neu zu übersetzen und Bibelkommentare umzuschreiben, sodass buddhistische und konfuzianische Lehren in das Alte Testament einfließen. Außerdem sollen zusätzliche Kommentare zum Neuen Testament hinzugefügt werden, die Parallelen zum Sozialismus ziehen. Der Plan beabsichtigt auch die „Einbeziehung chinesischer Merkmale in den Gottesdienst, die Lieder, die Kleidung der Geistlichen und den architektonischen Stil von Kirchengebäuden“.
Im ganzen Land wurden inzwischen Kreuze von Kirchengebäuden entfernt – sogar von staatlich genehmigten Kirchen. Außerdem wurde den Hauskirchen eine Form der offiziellen Registrierung angeboten. Viele vermuten darin allerdings einen Versuch der Regierung, an Namen von Hauskirchenmitgliedern heranzukommen und die Hauskirchen unter Druck zu setzen, sich der Patriotischen Drei-Selbst-Bewegung anzuschließen. In den offiziellen Kirchen, die dieser Bewegung angehören, müssen Pastoren jede Predigt den Behörden vorlegen, bevor sie sie halten dürfen.
Regierungsbeamte haben zahlreiche Grundschulen geschlossen, deren Träger Kirchen sind. Minderjährige dürfen keine religiöse Bildung mehr erhalten. Ausländer, die nur ansatzweise mit religiösen Vereinigungen in Verbindung gebracht werden konnten, wurden ausgewiesen. Hauskirchen, die sich bisher recht offen in großen Gruppen versammelt hatten, wurden verboten. Zu Beginn jedes Gottesdienstes muss jetzt die kommunistische Hymne gesungen werden; jede Kirche hat Bilder vom Präsidenten Xi Jinping aufzuhängen. In den Versammlungsräumen müssen Gesichtserkennungskameras installiert werden, die auf die Zuhörer gerichtet sind.
Eines der Hauptziele der "Verwaltung religiöser Angelegenheiten" ist, die chinesischen Kirchen von jeglicher Unterstützung und jedwedem Einfluss aus dem Ausland abzuschirmen. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden bekannte Gemeinden wie die Frühregen-Bündnis-Kirche überwacht. Das machte es der weltweiten Gemeinde Jesu schwer, den Geschwistern in China zu helfen. In Kanton und anderen Städten boten Beamte finanzielle Belohnungen für Informationen über „illegale religiöse Aktivitäten“ an. Eine Kirche nach der anderen wurde geschlossen. Zahlreiche Pastoren und Leiter erhielten lange Haft- und Geldstrafen.
Die Gemeinde bleibt standhaft
Der Druck auf die Frühregen-Bündnis-Kirche nahm stetig zu. Als die Gemeinde im Mai 2018 einen Gebetsgottesdienst für die Erdbebenopfer von Sichuan abhielt, führte die Polizei eine Razzia durch und beschlagnahmte mehr als 10.000 Bibeln, Bücher und CDs.
Nach Monaten der Verfolgung beschlossen die Leiter der Frühregen-Bündnis-Kirche schließlich, dass es Zeit war, ihre Stimmen zu erheben und veröffentlichten am 1. September 2018 eine „Erklärung um des christlichen Glaubens willen“. Darin betonten sie die Souveränität Gottes, die Autorität und Unfehlbarkeit der Bibel und die Rolle der Kirche. Sie endeten mit folgendem mutigen Schlusswort: „Wir sind bereit, um des Evangeliums willen jegliche Form des Verlustes in Kauf zu nehmen – sei es der Verlust unserer Freiheit oder gar der Verlust unseres Lebens.“ Pastor Wang Yi war der Erste, der unterschrieb, gefolgt von einer langen Liste weiterer Pastoren und Leiter nicht-registrierter Gemeinden aus dem ganzen Land. Bislang haben 439 Personen diese Erklärung unterschrieben, die sich gegen die staatliche gelenkte Beschneidung der Religionsfreiheit richtet.
Am 9. Dezember 2018 führte die Polizei eine groß angelegte Razzia gegen die Frühregen-Bündnis-Kirche durch und stellte den Betrieb ihrer Schule, ihres theologischen Seminars sowie der Kirche selbst ein. Innerhalb von drei Tagen wurden mehr als 100 Gemeindemitglieder verhaftet. Pastor Wang Yi und seine Frau nahm man ebenfalls gefangen.
In den darauffolgenden Monaten wurden der Hauptsitz sowie vier weitere Standorte der Frühregen-Bündnis-Kirche geschlossen und die Gemeinde für illegal erklärt. Wenn Gläubige versuchten, sich zu treffen, folgte die Polizei ihnen und schloss die Versammlungen – manchmal prügelten sie dabei sogar auf die Anwesenden ein. Eine Frau wurde so stark verletzt, dass sie infolgedessen ihr ungeborenes Kind verlor.
Trotzdem hörten die Gemeindemitglieder nicht auf, in den Angriffen und Verhören eine Gelegenheit dafür zu sehen, die Gute Nachricht zu verkünden. “Versucht, mit Gottes Hilfe in den Vernehmungen von Jesus zu erzählen“, lautete ein Kommentar auf der Internetpräsenz der Gemeinde. „Versucht, den Verhörraum in einen Gottesdienstraum zu verwandeln.“ Einige Gemeindemitglieder berichteten, dass Wärter zum Glauben kamen und Polizisten offen wurden für das Evangelium, nachdem sie die Zeugnisse einiger Christen gehört hatten.
Jin Rong, die Frau von Pastor Wang Yi, wurde nach sechs Monaten wieder freigelassen. Sie befindet sich aber weiterhin unter Hausarrest. Jeder der über 300 Mitglieder der Frühregen-Bündnis-Kirche, die seit 2018 festgenommen wurden, ist inzwischen wieder auf freiem Fuß – bis auf Qin Defu, einen der Ältesten, und Pastor Wang Yi. Während Qin Defu zu vier Jahren Gefängnis verurteilt worden ist, trifft Wang Yi eine neunjährige Haftstrafe – seit über zehn Jahren die längste, die ein Hauskirchenpastor in China je bekommen hat.
Jeden Monat werden weitere Kirchen geschlossen oder gar abgerissen, Gemeinden durchsucht und Christen verhaftet. Sollte China erneut in eine Phase der intensiven Verfolgung geraten, wie es nach der Kulturrevolution schon einmal der Fall war, so sind die Gemeinden dieses Mal jedoch vorbereitet. Denn inzwischen besitzen viel mehr Gläubige eine eigene Bibel – und wissen um die Früchte, die das treue Zeugnis ihrer Vorgänger hervorgebracht hat.